
1+1 Express, Winter 2024
“Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft.”
Nicht nur die hinter uns liegenden Wahlen, sondern auch die (tiefgreifenden oder eher wurzellosen) Veränderungen in der politischen Sphäre, die durch die Ereignisse in der Türkei -in engem Zusammenhang mit den Entwicklungen in der ganzen Welt- in den letzten zehn Jahren hervorgerufen wurden, zwingen uns alle, unseren bisherigen theoretischen und praktischen Weg zu überprüfen und herauszufinden, ob eine Aktualisierung oder Reparatur erforderlich ist.
Das Eingangszitat von Marx, das diesem Artikel den Titel gibt, gewinnt seine Bedeutung in diesem Zusammenhang: Die Zeit, aus der Vergangenheit zu lernen, wird nie vergehen – dennoch verlangt die Gegenwart (auch um lernen zu können) dringend, dass wir uns von der Nostalgie befreien.
Die Poesie von heute dürfen wir nicht aus unserer Nostalgie zusammenbasteln – sie kann nur aus unseren “Träumen” und Programmen für morgen geschöpft werden, und um das Morgen zu bauen, müssen wir schon heute zuschlagen. Kritik und Selbstkritik, die die Tür zu konkreten Erneuerungen öffnen, die in der Praxis erprobt werden sollten, ist eine der ersten Notwendigkeiten, um sich von konservativen Schalen zu befreien und kollektive politische Vorstellungen für einen aufstrebenden Kampf “im Heute, mit der Poesie von morgen” zu schaffen.
Das erste Soufflé der HDP
Der Parteirat der HDP (Demokratische Partei der Völker), die bis zu den Wahlen am 14. Mai 2023 das Flaggschiff des Kampfes für die Demokratisierung der Türkei war, beschrieb in seiner Erklärung vom 11. Juni 2023 die Ursachen der Probleme, die zum Scheitern ihrer Bemühungen führten, mit folgenden Schlagworten: “bürokratisches und zentralistisches Verständnis”, “Entfernung vom Kern und den Hauptquellen des Kampfes”, “bürgerliche Repräsentationspolitik”, “hierarchische Dichotomien wie Partei-Volk und Zentrum-Lokal”, “Populismus”, “auf Wahlen beschränkte Bündnisse” und “Entfernung von der Politik der dritten Linie”.
Als Lösung nennt der Parteirat die folgenden Stichworte: “ein neues politisches und organisatorisches Verständnis”, “Auffrischung der eigenen Reihen”, “ein echter Prozess der Kritik und Selbstkritik”, “Mechanismen zur Stärkung der Teilhabemöglichkeiten”, “ein radikaler Bruch mit den strukturellen Funktionsweisen” und “ein revolutionäres und kollektives Verständnis des Kampfes”.
Dieses erste Soufflé des Parteirates der HDP zum Inhalt der Diskussionen bildet den Ausgangspunkt des vorliegenden Artikels.
Veraltete Linke, neuer Mensch
Die HDP, die sich kürzlich in die “Partei der Völker für Gleichheit und Demokratie” (DEM) umgewandelt hat, verweist auf einen Rahmen jenseits ihrer selbst, wenn sie anerkennt, dass die Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert ist, “strukturell” sind und dass zu ihrer Lösung “ein neues politisches und soziales Verständnis” und “eine neue politische Sprache” notwendig sind. Der HDP-Ko-Vorsitzender Mithat Sancar brachte die Notwendigkeit der Erneuerung im Zusammenhang mit der Situation des Landes zum Ausdruck: “Wenn wir dieses Land erneuern wollen, müssen wir zuerst uns selbst erneuern.”
Cengiz Çiçek, Ko-Sprecher des Kongresses der Demokratischen Völker (HDK) und Istanbuler Abgeordneter der DEM, meint hingegen, dass sie es versäumt hätten, “die ideologische Hegemonie und die sozialen Organisationsnetzwerke, die von der Regierung im Laufe der Jahre aufgebaut wurden, zu durchschauen und ihre Alternativen zu konkretisieren” und dass jetzt “die Abrechnung tiefer angegangen werden sollte”.
Diese Ansätze lassen darauf schließen, dass auch das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer neuen Lesart, die sich aus den in unserem Land stattfindenden Veränderungen ergibt (in Abhängigkeit von den Entwicklungen in der Welt), in die Diskussion einbezogen wird.
Die Welt und die Türkei sind in eine “neue Ära” eingetreten, die eine neue conditio humana mit sich bringt, in die der Geist der großen Umwälzungen “eingehaucht” wird. Die Notwendigkeit für die revolutionäre Bewegung, ihre Reihen zu erneuern, ergibt sich nicht nur aus ihrer eigenen Veralterung, sondern auch aus der Erneuerung des “Feindes” mit den Beziehungen und Widersprüchen, die unter seiner Herrschaft entstanden sind, und damit des “Menschlichen” insgesamt.
Wir sind mit einem neuen politischen Raum und einem neuen Menschen konfrontiert, die durch die verschärften Widersprüche, die zu Kriegen und radikalen Zerstörungen geführt haben, und durch fünfzig Jahre neoliberaler Transformation (oder kapitalistischer Eroberung der Welt) entstanden sind. Milliarden von Menschen, die in die Informationsordnung dieses “Zeitalters des Unbehagens” hineingeboren werden, sind mit “einem flexiblen und einsamen menschlichen Zustand” konfrontiert – abgeschnitten von sozialen Bindungen, unsicher und ohne Bezugspunkte, da sie sich schnell an jede neue Situation anpassen müssen.
Der Nahe Osten ist eines der Epizentren der sich verschärfenden Ungleichheiten und eine der Geographien, in denen sich Widersprüche zu den gewaltsamsten Konflikten in einer Welt entwickeln, in der das Lokale immer mehr zu einem “Zeichen der Entbehrung und des Zurückbleibens” wird.
Die Türkei als Land des Nahen Ostens befindet sich an einem Scheideweg, an dem sich die Folgen der Veränderungen in der Welt zuspitzen, und sie spürt diese Veränderungen bis in die Knochen und in einer Schärfe, die sich aus ihren eigenen einzigartigen Konflikten ergibt.
- DAS DREIECK MARKT-PROLETARIAT-WARE
“Was wir erleben, ist nicht der endgültige Sieg des Kapitalismus, sondern seine erste und einzig wirkliche Krise.” (Immanuel Wallerstein)
In einer Reihe von 15 Artikeln, die in der Zeitung “Yeni Yaşam” und auf “sendika.org” veröffentlicht wurde, beschäftigt sich Ferda Koç mit einer der entscheidendsten Säulen der Transformation der kapitalistischen Produktions- und Verteilungsverhältnissen: Das Ausmaß der massiven Welle der Proletarisierung und der Kommerzialisierung/Marktförmigkeit des (gesellschaftlichen) Lebens.
“Die ganze Welt steht heute unter der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsverhältnisse”, sagt Koç und nennt eindrucksvolle Statistiken über das Dreieck Markt-Proletariat-Ware, das die “Außengrenzen” des kapitalistischen Wachstums markiert:
“Im Jahr 1980 lebten 4,5 Milliarden Menschen auf der Welt und 1,5 Milliarden davon, also ein Drittel, waren Lohnarbeiter*innen. 39 Jahre später, wo die Weltbevölkerung 8 Milliarden erreicht hat, ist die Zahl der Lohnarbeiter*innen auf 4 Milliarden, die Hälfte der Gesamtbevölkerung, angestiegen.”
Koç stellt fest, dass auch die Migrationsbewegungen als “ein grundlegendes Segment der globalen Proletarisierung” definiert werden sollten, und sagt, dass diese neue Weltsituation, in der fast die gesamte Weltbevölkerung ihre Bedürfnisse als Ware befriedigen und sogar ihre (“eigenen”) Mittel zur Teilnahme an Produktion/Konsum (Smartphones, Laptops usw.) überallhin mitnehmen muss, “alle Beziehungen zwischen den Menschen in ‘Marktbeziehungen’ umwandelt”.
Überall auf der Welt wachsen die Städte, und alle Formen der Produktion, einschließlich der landwirtschaftlichen Produktion und der Hausarbeit, werden kapitalisiert. Die Legitimität des menschlichen Lebens wird zunehmend durch die Quantität und Qualität seiner Funktion als Arbeiter oder Kunde bestimmt. Die Organisation der Produktion konzentriert sich in den kapitalistischen Zentren, während sich an der Peripherie immer mehr Länder zu Billiglohndepots entwickeln, in denen die Menschen in wachsenden Städten teilweise übereinander gestapelt leben.
In seinen Zentren, in denen er viel Wert auf “Innovation” legt, versucht der Kapitalismus, den “Frieden” (den Status quo) zu bewahren – mit Hilfe der zeitgenössischen Argumente der Aufklärung, der Modernisierung und des Pluralismus, die er fast vollständig funktionalisiert hat -, während er in der Peripherie Diktaturen in Verbindung mit Sekten, traditionellen Gemeinden und religiösen Fundamentalisten unterstützt und entwickelt.
Die Klimakatastrophe stellt eine natürliche Folge dieses Prozesses dar, in dem das kapitalistische Wachstum uns alle verschlungen und jeden Aspekt des Lebens marktförmig/warenförmig gemacht hat.
Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens
In “Das Elend der Philosophie” stellt Marx fest, dass die Produktionsverhältnisse die Massen in Arbeiter*innen verwandeln, indem sie eine gemeinsame Situation und gemeinsame Interessen schaffen, die sie verbinden, und dass diese Masse sich im Kampf zusammenfindet und sich als Klasse für sich konstruiert, wodurch die Interessen, die sie verteidigt, zu Klasseninteressen werden. Die gemeinsame Identität ergibt sich also nicht nur aus der gegebenen objektiven Situation, sondern bedingt auch die Organisation durch subjektives Handeln. Klassenbewußtsein entsteht in diesem “politischen Kampf” und gibt denen, die sich an nichts (mehr) wenden können, die Chance, sich über eine revolutionäre Identität zu orientieren.
Auch aus der Psychoanalyse gibt es Einwände dagegen, Identität mit einem Determinismus zu denken, der sich ausschließlich auf die objektiven/vorgegebenen Bedingungen und die darin zum Ausdruck kommenden gemeinsamen Interessen stützt. Der Psychotherapeut Oğuzhan Nacak weist darauf hin, dass die Behauptung, dass “die Menschen rational sind und nach ihren eigenen Interessen handeln”, eine Annahme der “liberalen Ideologie und des wissenschaftlichen Diskurses” ist, die im Leben ständig falsifiziert wird, und sagt, dass die Identität “durch die Merkmale konstruiert wird, die man ausschließt, und nicht durch die Merkmale, die man einschließt und mit denen man sich identifiziert”.
Was die biopolitischen Thesen über soziale Exklusions- und Inklusionsprozesse aufzeigen, steht im Einklang mit diesen Feststellungen. Es reicht also nicht aus, gemeinsame Interessen zu formulieren. Der Aufbau eines Klassenbewusstseins erfordert “unser” subjektives Eingreifen und eine entsprechende Organisation. Nicht nur die Geschichte macht uns – wir machen auch die Geschichte.
Vor hundert Jahren wies Antonio Gramsci darauf hin, dass der revolutionäre Prozess, der auch eine revolutionäre Identität hervorbringen würde, durch zwei grundlegende Phänomene gekennzeichnet ist: “Pessimismus des Verstandes und Optimismus des Willens”.
In seinem Buch “The End of the World as We Know It” (“Das Ende der Welt, Wie Wir Sie Kennen”) bezeichnet Immanuel Wallerstein die intensive Urbanisierung, die ökologische Krise, die Krise der Demokratie und die anhaltende wirtschaftliche Krise als die “vier zerstörerischen Tendenzen des Kapitalismus” und kommt zu dem Schluss, dass “die Hinwendung zur immateriellen Produktion und zum Spektakel kein neuer Horizont für die unbegrenzte Akkumulation ist, sondern die letzte Chance, die der bleibt”. Die unbegrenzte und wettbewerbsorientierte Nutzung dieser “letzten Chance” erschüttert die Welt in ihren Grundfesten und offenbart die Symptome der conditio humana, die wir zu unserer Geschichte/Identität hinzufügen müssen.
Der Zustand der Gesellschaft in der Türkei, der von Hamit Bozarslan als “die Verblödung der Gesellschaft, die Zerstörung ihrer rationalen Fähigkeiten und damit die Beseitigung der Griffe, die es der Gesellschaft ermöglichen könnten, die Vergangenheit zu lesen und sich die Zukunft vorzustellen” beschrieben wird, verstärkt zweifelsohne die gegebenen Identitäten und erschwert die Schaffung einer neuen Kampfidentität – dennoch ergeben sich hieraus auch neue Möglichkeiten, die bisher unzugänglich waren.
Nur wenn die Situation so verstanden wird, kann die von Gramsci aufgezeigte Dichotomie zwischen dem Pessimismus des Verstandes und dem Optimismus des Willens verstanden werden: Die Destruktivität dieses Prozesses -vorausgesetzt, sie kann “von uns” organisiert werden- ist ein Vorteil für die Revolution. Das Fehlen dieser kommunistischen Intervention muss auch als Ursache (nicht als Folge!) der Stärkung von Sekten, traditionellen Gemeinschaften und Drogensucht verstanden werden, die sich unter den Arbeiter*innen, Verarmten und Unterdrückten ausbreiten. Der Verfall vieler moralischer Werte, von dessen Manifestationen “wir” täglich erschüttert werden, ist letztlich ein weiterer Beweis dafür, warum wir dringend eine moderne Form der revolutionären Identität des Proletariats brauchen. Es ist logisch, dass diejenigen, die sich in dieser Welt immer weniger zurechtfinden, sich eher für eine andere, neue Welt an die Arbeit machen.
Der Aufbau einer neuen kommunistischen Strömung ist fast gleichbedeutend mit dem Aufbau eines neuen “Klassenbewusstseins”/einer neuen Identität des gemeinsamen Kampfes, und der Schaffung dieser Identität liegt zweifellos ein komplexes Geflecht von Widersprüchen zugrunde, die es zu entschlüsseln gilt.
- INSTITUTIONALISIERUNG UND VERGESELLSCHAFTUNG DES FASCHISMUS
Jede Diskussion über die Türkei muss von der neoliberalen Eroberung und Umgestaltung der Welt ausgehen und insbesondere vom Kontext der Krise, in der sie sich seit 2008 befindet. Wir sind mit einer neuen Situation konfrontiert, in der sich der internationale Charakter von der objektiven Schicksalsgemeinschaft des Proletariats wie nie zuvor in seiner Geschichte verschärft hat, weil sich auch die Bourgeoisie enorm internationalisiert hat. Zudem “hebt” das Niveau, das der Weltmarkt erreicht hat, “die klassische Unterscheidung zwischen Ökonomie und Politik begrifflich auf”. Wenn man auf Chile, Syrien, Kolumbien, Ungarn, Vietnam, Ägypten, Bangladesch oder Polen schaut, sieht man ein Stück Türkei – wenn man auf die Türkei schaut, sieht man ein Stück der Länder unserer Erde, die ein ähnliches Schicksal teilen.
Diese Schicksalsgemeinschaft hebt natürlich die regionalen/historischen Besonderheiten nicht auf, sondern macht es vielmehr notwendig, sie im Kontext der neuen Rollen, die sie eingenommen haben und/oder einnehmen könnten, (neu) zu verstehen und im Hinblick auf die Erfordernisse des Kampfes neu zu bewerten. Viele dieser Entwicklungen führen zu Erschütterungen in den Grundlagen und Schichten des Gegebenen.
Die Türkei erlebt in der Schärfe des Nahen Ostens sowohl die “kommunikativen” Effekte als auch die “natürlichen” Folgen der neoliberalen Transformation (und des neoliberalen Bankrotts), wie die rasante Urbanisierung, die (abhängige) Industrialisierung, die (Flucht-)Migration, die Knechtschaft in der Achse von Individuum-Tradition und Krieg. Das hegemoniale Netzwerk und die Diktatur der AKP-MHP wurden und werden auf diesen Bedingungen und im Zentrum der Vergesellschaftung des Krieges aufgebaut.
In ihrem Buch “Mahalledeki AKP” (AKP in der Nachbarschaft) fordert Sevinç Doğan dazu auf, auf Bourdieus Einwand gegen die Althussersche These zu hören, die politische Parteien als ideologische Apparate klassifiziert, und schlägt vor, die Partei stattdessen mit dem “Sphäre”-Ansatz zu definieren, der “es uns erlaubt, sie als eine mobile, sich wandelnde Form sozialer Beziehungen zu begreifen”, und beschreibt die AKP wie folgt:
“Die AKP ist eine der Kräfte innerhalb der zentralisierten Staatssphäre, die einen Machtmanagement-Aspekt hat und die versucht, ihre eigenen Strategien und ihr Hegemonieprojekt im Gramscianischen Sinne zu verwirklichen.”
Doğan, die Hinweise darauf gibt, dass “die AKP in der Lage ist, ihre Kader durch eine organisatorische Doxa (Komplizenschaft) zusammenzuhalten”, verdeutlicht zudem die Rolle, die Familien und Communities aus Landsleuten (“hemşehri”) innerhalb dieses Netzwerks spielen.
Dass sich die AKP in ein komplexes soziales und ökonomisches Netzwerk verwandelt hat, das seine Legitimität selbst organisiert und ausbaut und (wie die Mitgliederzahlen deutlich zeigen) seine hegemoniale Macht durch faschistische Zurichtung institutionalisiert, ist längst eine Binsenweisheit.
Populismus: Das Verhängnis des “absoluten” Kapitalismus
Bevor wir uns der kurdischen Frage und dem kurdischen Widerstand zuwenden, die einen der beiden entscheidenden Kontexte dieses Prozesses darstellen, ist es notwendig, die internationale Dynamik des Aufstiegs des Populismus zu betrachten, da sie ein wichtiger Teil des Bildes ist, das den AKP-MHP-Faschismus hervorgebracht hat.
Max Weber, der den Zusammenhang zwischen dem deutschen Kapitalismus und der protestantischen Moral sowie der wirtschaftlichen Entwicklung aufzeigte, machte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die folgende Feststellung:
“Die heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung ist ein ungeheurer Kosmos, in den der einzelne hineingeboren wird und der für ihn, wenigstens als einzelnen, als faktisch unabänderliches Gehäuse, in dem er zu leben hat, gegeben ist. Er zwingt dem einzelnen, soweit er in den Zusammenhang des Marktes verflochten ist, die Normen seines wirtschaftlichen Handelns auf.”
Die Korrelation der Entwicklung der Massenmedien mit der Phase der “neoliberalen Eroberung der Welt” des kapitalistischen Wachstums hat sowohl das Ausmaß als auch die Dimensionen des Prozesses, von dem Weber spricht, vervielfacht (mit einer Schärfe, die fast alle unsere Lebensbereiche und Abstraktionen durchdringt) – so sehr, dass gerade hier von (proletarischer) Aufklärung und Emanzipation die Rede sein müsste.
Wir kommen nicht umhin, uns mit den vom Kapitalismus geprägten Produktions-, Verteilungs- und Vergesellschaftungsprozessen und seiner für unsere Zeit charakteristischen neoliberalen Transformations- und Krisenform zu befassen – aber selbst innerhalb der wichtigsten Kräfte der linksradikalen Politik werden Unterdrückungssysteme unter verschiedenen Gesichtspunkten diskutiert (Nationalstaat, Patriarchat, Rassismus, soziale Folgen des Neokolonialismus usw.), aber der Kontext des Kapitalismus wird dabei oft ausgeklammert. Hier kommt die uralte Aufgabe des Marxismus, “auf die Beine zu stellen”, ins Spiel und zeigt ihre Notwendigkeit an den Symptomen innerhalb des Systems, wie dem Massenerfolg des Populismus.
Evren Balta ergänzt die Frage “Können wir den Aufstieg populistischer Parteien als Beginn des Zerfallsprozesses der nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten liberalen Ordnung sehen?” um die Frage “Ist der Populismus ein Versuch des Nationalismus, in einer Welt, in der die Grenzen erodieren, einen Platz für sich als organisierende Identität zu finden?” und macht auf ein grundlegendes und verbindendes Merkmal populistischer Tendenzen aufmerksam:
“Anstatt die kollektive Verantwortung für die aktuellen Probleme zu übernehmen, externalisiert der Populismus konsequent sowohl die Ursachen der Krise als auch das Versagen der Eliten, sie zu lösen.”
Überall dort, wo der Boden des Populismus angekratzt wird, auch wenn er sich auf Tradition oder die Verteidigung gegebener Identitäten beruft, wird dasselbe erreicht: Die “Verlierer” mit ihrer gelähmten, marktorientierten Sozialität werden dazu gedrängt, sich für eine der Cliquen des Kapitals zu entscheiden (und höchstwahrscheinlich für diejenige, die sich zumindest auf den Geist des “Nationalstaats” beruft), die das Produkt eines im neoliberalen Raum artikulierten Kampfes ist.
Die Desorientierung der Massen, die zur Wählerschaft des Populismus geworden sind, ist so groß, dass sie oft zu “ahnungslosen” Untertanen derer werden, die sich zwar hier und da mit subtilen Andeutungen über den Neoliberalismus “gegen die neue Weltordnung” stellen, in Wirklichkeit aber versuchen, mit radikalen “Investitionen” in den neoliberalen Wettbewerb einzusteigen.
In der gegebenen Informationsordnung (“Gesellschaft des Spektakels” oder “Post-Wahrheit” – wie auch immer!) klammern sich diese Massen unter dem Einfluss des Wunsches, der Situation und ihrem Unbehagen einen Sinn zu geben, an die einfachsten Antworten (z.B. Verschwörungstheorien) als “Wahrheit” und/oder versuchen, wie Erich Fromm schon sehr früh festgestellt hat, einem Leben, das nicht geliebt werden kann, durch das, wofür sie es opfern, einen Sinn zu geben. Denn der Kapitalismus scheint trotz seiner Destruktivität, der Verarmungswelle, der Klimakatastrophe und der Kriege -ganz im Sinne von Max Weber noch 1920- “faktisch unabänderlich” zu sein.
Einige der Aspekte des Erstarkens von Populismus liefert der Rahmen von Jack Snyder, ohne notwendigerweise die spezifischen historischen Codes (wie die realsozialistische Vergangenheit) übersehen zu müssen:
“Wirtschaftlich gesehen sind diese Wähler*innen tendenziell die Verlierer*innen der Globalisierung, der Kapitalmobilität, der Wissensökonomie, der arbeitssubstituierenden Technologien und der Deindustrialisierung. Kulturell gesehen verlieren sie auch ihren Status in einer Ära der ethnischen Vielfalt und der sich verändernden Geschlechterrollen. Ihre Gemeinschaften stehen aus wirtschaftlichen und kulturellen Gründen unter Druck”.
Der von der AKP-MHP verkörperte Populismus ist sicherlich mit den neuen populistischen Organisationen und Regierungen verwandt, die in anderen Teilen der Welt an Stärke gewinnen. Um den Prozess zu verstehen, der erst zum Militärputsch vom 12. September 1980, dann zur AKP-Regierung und zur Sozialisierung und Institutionalisierung des Neofaschismus geführt hat, muss jedoch mit gleicher Intensität der exklusive kulturelle und historische Nährboden diskutiert werden, auf dem die AKP aufgebaut wurde.
Ein weiterer Punkt, der die Einzigartigkeit des AKP-MHP-Faschismus ausmacht, ist seine “Seltsamkeit” in diesem Kontext: Die Clique, die das Flaggschiff der neoliberalen Transformation des Landes spielt, hat es auch geschafft, zur wichtigsten Adresse der organischen Opposition zu werden, die diese Transformation hervorgebracht hat. Der Beitrag der AKP-MHP-Gegner*innen zu dieser Seltsamkeit besteht darin, dass sie auch ihre Opposition nicht “fundamental” begründet haben, sondern sogar auf eine Demokratisierung/(Re-)Liberalisierung verwiesen, die sich aus den internationalen Kräfteverhältnissen der neoliberalen Ordnung und der einzigartigen politisch-kulturellen Akkumulation der Türkei hätte ergeben sollen: Diese abwartende Haltung und die damit einhergehende Handlungsunfähigkeit halten bis heute an. Dennoch scheint der Faschismus heute keine Bedrohung für die Zukunft mehr darzustellen: Die Türkei lebt nicht mehr auf dem Weg, sondern mitten in einem Faschismus im Sinne des Zeitgeistes.
Gemeinsame Identität der Kompliz*innen
Im allgemeinsten Rahmen ist der AKP-MHP-Faschismus einerseits ein harmonisches Instrument der neoliberalen Transformation des Nahen Ostens und der Türkei und andererseits die Verdichtung und Vergesellschaftung der Formen der “Interessenpartnerschaften” und “Komplizenschaften” einiger Widersprüche und Konflikte, die aus dem Schoß der Republik Türkei aufsteigen.
AKP-MHP ist der Name für die neoliberale Aktualisierung der kapitalistischen und kolonialistischen ökonomischen Grundlinie und des Nationalismus der Republik. Die Entwicklung dieser Aktualisierung von ihrer “demokratisch” verkleideten Form zu ihrer faschistischen Form ist auf vier wesentliche Punkte zurückzuführen: Die kapitalistische Clique, die die neoliberale Transformation des Landes anführt, dominiert nun den türkischen Staat und die türkische Bourgeoisie, während gleichzeitig der Markt an seine nationalen und internationalen Grenzen stößt. Die Widersprüche und die Polarisierung innerhalb der kapitalistischen Weltordnung nehmen eine Form an, die zunehmend den Faschismus erfordert und ermöglicht. Die kurdische Dynamik kann (aufgrund der hegemonialen Macht der kurdischen Befreiungsbewegung) immer noch nicht in das System integriert werden. Die konstituierende/vereinigende und fortschrittsfördernde Kraft des Krieges kann heute wieder entfesselt werden.
Trotz der konstituierenden Kraft des Krieges, der Konzentration des Kapitals in den Händen der faschistischen Clique und der Verbreitung von Religiosität und Sekten als zustimmungsfördernde Kräfte und Bedrohung für die gesamte (moderne) politische Sphäre ist die Hegemonie des Faschismus (auch aufgrund des Widerstands der Kurd*innen, der Frauen und anderer sozialer Dynamiken sowie des -wenn auch begrenzten- Kampfes der Arbeiter*innen) brüchig und weit davon entfernt, eine allumfassende Herrschaft zu sein. Vielmehr macht dieser Prozess die Identitäten der türkischen Modernisierung (die heute vom Faschismus übernommen werden) fragiler und brüchiger denn je.
Diese Bedingungen, unter denen der zugrundeliegende Rassismus der Türkei mit der neoliberalen faschistischen Diktatur und ihrem Populismus zusammentrifft, machen die moderne türkische Identität nicht nur angreifbar -in dem Maße, in dem ihre Aggressivität zunimmt-, sondern lassen auch die “Komplizenschaft” als eines der wichtigsten historischen und aktuellen Merkmale dieser Identität immer schärfer, enger und intensiver werden. Sich vom Türkentum zu befreien, bedeutet in diesem Zusammenhang, sich von einer komplexen Komplizenschaft zu befreien, die zugleich eine vor allem epistemologische Knechtschaft darstellt.
Im Schatten der neoliberalen Transformation, der Krisen und Kriege und unter den Bedingungen des Faschismus entstehen dagegen neue “Schicksalsgemeinschaften”, die noch keine organisierende und überzeugende Identität haben.
Diejenigen, deren Privilegienbewusstsein immer mehr an Boden verliert, die aus unterschiedlichen Gründen an der gegenwärtigen Form der “Komplizenschaft” nicht teilnehmen können (zumindest nicht in dem Maße und in der Form, wie sie es sich wünschen) und die sich nach der “guten alten Zeit” zurücksehnen, in der sie mehr “respektiert” wurden, stärken mit ihrer Heulerei eher den Legitimationsboden für faschistische Vergesellschaftung und Populismus.
- NICHT NUR POLITISCHE, SONDERN AUCH EPISTEMOLOGISCHE VEREINIGUNG!
In der Türkei wurden die Debatten über “Identität” und “Identitätspolitik” meist im Zusammenhang mit den Kurd*innen und den Formen ihrer politischen Existenz geführt. Die Türk*innen und ihre politische Existenz wurden jedoch selbst unter den Linken oft verabsolutiert, und auch wenn sie analysiert wurden, wurden sie nicht auf der gleichen Ebene problematisiert.
Dank der Bemühungen der kurdischen Gesellschaft und der Studien in diesem Bereich ist es nun jedoch klar, dass das, worüber im Zusammenhang mit “Identität(-spolitik)” gesprochen werden muss, vordergründig das Türkentum und seine Symptome im gesamten politischen Bereich sind.
Die Kurdistanfrage als ein Thema, das es geschafft hat, selbst die Kommunist*innen in der Türkei vom materiellen Boden der Wahrheit zu entfernen, offenbart auch die manipulative Kraft der modernen nationalen Identität (ob wir sie nun Privilegienbewusstsein, Nationalbewusstsein oder kolonialen Blick nennen), insbesondere wenn sie auf einen Kolonialstaat trifft.
Die Beziehung zwischen der sozialistischen Bewegung der Türkei und der modernen politischen Existenz der Kurd*innen ist jedoch (vielleicht als Ergebnis des Diktats der Geschichte) keine gegnerische Beziehung, sondern vielmehr eine tief verwurzelte Verwandtschaft. Die kurdische politische Existenz, die von den urbanisierten Kurd*innen ab den 1970er Jahren entwickelt wurde, war über die Brücke der “fundamentalen Opposition gegen den Staat” mit dem Verständnis verbunden, als dessen Symbol wir “Kurtuluş Hareketi” (Die Befreiungsbewegung) und İbrahim Kaypakkaya nennen können. Sowohl die Einführung des Marxismus unter den kurdischen Studierenden im Westen des Landes als auch die Organisationsbemühungen im “Osten” machten die sozialistische Bewegung in der Türkei zu einer der Brutstätten, in der die moderne kurdische Identität geformt wurde.
Was diese Beziehung, die ihre Parteien sowohl gegeneinander als auch füreinander verwandelte, möglich machte, war einerseits die Selbstkonstruktion der kurdischen politischen Existenz in der Türkei und international, insbesondere seit den 60er Jahren, und andererseits die Fähigkeit der damaligen Klassenbewegung, beide Parteien gegen den türkischen Faschismus auf der Ebene des praktischen Wissens über Lebensprozesse zusammenzubringen.
Die Volksbewegung der Kurd*innen, die von der Brücke des sozialistischen Kampfes schnell zur These “Kurdistan ist eine Kolonie” gelangte, hat durch die dadurch entstandenen neuen Abstraktionsmöglichkeiten wichtige Lehren in Bezug auf ihr Verhältnis zum eigenen Land und ihre strategische Tiefe/Vielfalt zutage gefördert, die auch den heutigen kommunistischen Kämpfen als Kompass dienen könnten. Das richtige Verständnis dieser Lehren erfordert die Überwindung des Konservatismus, der die Geschichte einfriert, und die Anpassung der Methode (die zum Erfolg führte) an die heutige Zeit.
Es lässt sich feststellen, dass ein großer Teil der sozialistischen Bewegung in der Türkei es nicht geschafft hat, ihre Beziehung zu Kurdistan und der kurdischen Befreiungsbewegung in eine solche Verbindung umzuwandeln, dass sie die republikanische Modernisierung idealisiert, indem sie sie auf ihre überbaulichen Merkmale beschränkt, und dass sie sich innerhalb dieser Abstraktion, losgelöst von ihrem materiellen Boden, als “ihre Linke” konstruiert, was ihre Fähigkeit, sich gegen das System aufzulehnen, schwächt und sie sogar zu einem Teil der organischen Opposition des Bestehenden macht.
Gründungsstrategie
Die kurdischen Nationalist*innen gehen in ihren Analysen, die sich immer weiter von der Wahrheit entfernen und ihre manipulativen Aspekte verstärken, davon aus, dass die Beziehung zwischen der Linken in der Türkei und der kurdischen Befreiungsbewegung keinen anderen Horizont haben kann als das “Türkentum in den Kurd*innen” oder die Vereinigung von Kurd*innen und Türk*innen in einem Aspekt des Türkentums.
Die Distanzierung von der nationalistischen Formation und ihren einengenden Abstraktionen enthüllt die Wahrheit: Die Fähigkeit, uns zu vereinen, liegt nicht in vorgegebenen (souveränen) Identitäten, sondern in unserer (materiellen) Schicksalsgemeinschaft und unseren konstitutiven gemeinsamen Widersprüchen/Feinden. Dass wir uns vereinigen müssen, liegt jedoch nicht nur am Diktat der Geschichte, sondern auch daran, dass diese Vorstellung eine der gegenwärtigen Ausdrucksformen fortwährender subjektiver Interventionen ist.
Die Wurzeln dieser beharrlichen Interventionen sind auch in den Gründungsdokumenten der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu finden. Der Wille und die Handlungen, die die HDK und die HDP hervorgebracht haben, deuten auf eine Fortsetzung dieser Gründungsstrategie (mit den heutigen Inhalten und Formen) hin. Die Probleme bei der Transformation der Beziehungen zwischen der Linken in der Türkei und der kurdischen Befreiungsbewegung in ein echtes Verhältnis der Genossenschaft, das entsprechend den Bedürfnissen, die durch die konkreten Bedingungen auferlegt werden, definiert und entwickelt wird und einen gemeinsamen Geist offenbart, sind jedoch bei weitem noch nicht überwunden. Gerade hier können die neoliberale Eroberung der Welt und die damit verbundenen (sozialpolitischen) Entwicklungen sowie die Risse und Verschärfungen, die der AKP-MHP-Faschismus mit sich bringt, sowohl Chancen als auch Gefahren bergen.
Linke, geht wählen!
Ali Ergin Demirhan stellt in seinem Artikel eine alarmierende Beobachtung an, in der er erörtert, wie die bürgerlichen Wege des Kampfes gegen den Faschismus in der Türkei blockiert sind und warum und wie die Opposition revolutioniert werden muss:
“Die sozialistische Bewegung in der Türkei steht nach den Wahlen vor einem unvermeidlichen Auflösungs- und Umgestaltungsprozess. Das Problem geht über die Wahlergebnisse hinaus.”
Demirhan beschreibt die Zeit vor den Wahlen als “einen Prozess der Befriedung und des Rechtsrucks, in dem die Arbeiterklasse und ihre sozialen Verbündeten politisch neutralisiert, immobilisiert und wehrlos gemacht wurden, indem sie sich in den Reihen der Polarisierung innerhalb der herrschenden Klassen wiederfanden”:
“Die Niederlage einer Alternative der herrschenden Klassen hat sich in eine Niederlage der systemfeindlichen Kräfte und der von ihnen repräsentierten Teile des Volkes verwandelt”.
Demirhan kritisiert auch die Definition des “antifaschistischen Kampfes” durch die Linke und verweist auf einen politischen Horizont, der über das Wählerverhalten hinausgeht:
“Anstelle von ideologischen Lockerungen, die darauf abzielen, die Sympathie von Teilen zu gewinnen, die dazu neigen, in die ‘gute alte Zeit’ zurückzukehren, ist eine ideologische Haltung notwendig, die die Vergeblichkeit dieser Bemühungen aufzeigt und die Aufmerksamkeit auf die proletarische Zukunft lenkt. Ein ideologischer Kampf zur Überwindung der gegebenen sozialen Polarisierung wird nicht außerhalb von Massenkämpfen möglich sein.”
Dieser Ansatz enthält die Kerne eines Verständnisses und einer Diskussion über die Notwendigkeit einer hegemonialen revolutionären Politik, die alle Arbeiter*innen und Unterdrückten der Türkei umfassen würde.
Was den Sozialismus in der Türkei zunächst (in Form des “Linksseins”) in eine der Identitäten des (neo-)liberalen politischen Spektrums verwandelte, ihn konservierte und seine Bindungen an die Wahrheit des Landes sprengte und ihn schließlich zur “Rechtswerdung” führte, ist vor allem seine Unfähigkeit, sich von der kemalistischen Tradition und Erziehung zu lösen, und seine unvollständige Genossenschaft mit der kurdischen Befreiungsbewegung – es liegt in der Natur der Sache, dass einige der Elemente, die diskutiert und repariert werden müssen, hier zu finden sind.
Ein revolutionär-demokratischer Kampf, der feststellt, dass das Schicksal der türkischen und kurdischen Arbeiter*innen ein gemeinsames ist, sieht sich in dem bisher genannten Zusammenhang mit einer ernsten Frage konfrontiert: Gehört der gerechte Zorn der Kurd*innen zur Identität des gemeinsamen Kampfes?
Unter dem Einfluss vor allem der liberalen und religiösen Teile des HDP-Bündnisses und der aus dem Westen importierten neoliberalen Definitionen von Rassismus/Diskriminierung und Aktivismus, vor allem in den Tagen des Friedensprozesses, entstand eine Sprache, die eher die kurdische Viktimität als kurdische Wut und berechtigte Forderungen identifizierte. Der Aufbau und die Übernahme einer gemeinsamen Kampfidentität, die Kurd*innen (oder Araber*innen, Alevit*innen, Armenier*innen) einschließt, bringt jedoch nicht notwendigerweise die Übernahme der Diskriminierungs-/Rassismuskonzepte der neoliberalen Identitätspolitik mit sich, die in einer Weise essentialistisch und individualistisch sind, die das Ganze auf die “Erfahrung” reduziert, und deren realer Horizont nicht über die Reproduktion des Status quo und der “Normalität” in den zentralkapitalistischen Ländern hinausgeht.
In einem Land, in dem keine der gegebenen Identitäten die Schicksalsgenoss*innen zusammenbringen kann, ist die erste Politik, die aufgebaut werden muss, die Schaffung und Aneignung einer gemeinsamen Kampfidentität. Diese Identität, die in den Händen der Arbeiter*innen- und Befreiungskämpfe wachsen muss, die eine demokratische Heterogenität gegen die marktförmige Monotonie des Lebens symbolisiert und einen Kompass für diejenigen bietet, die “ihren Weg verloren haben”, in den Mittelpunkt der politischen Bemühungen zu stellen, unterscheidet sich radikal von der neoliberalen Identitätspolitik, die keinen anderen Horizont hat, als die (gegebenen oder erfundenen) Identitäten an den Status quo “in ihren eigenen Farben” zu binden.
Die Feststellung, dass die kapitalistische Weltordnung die Unterscheidung zwischen Politik und Ökonomie auch “begrifflich aufgehoben” hat (siehe: Fußnote 10), belegt diese These.
Als eine Intervention, die durch diese Abrechnung bedingt und verkörpert ist, scheint die Identität “Türkeier” (Türkiyeli) die naheliegendste Alternative zu sein, auf die wir zugreifen können, und aus diesem Grund ist sie sehr wertvoll, um sie den (neo-)liberalen Konservativen zu überlassen.
Vier Ansätze und der erkenntnistheoretische Imperativ
- In seinem Interview mit Gazete Duvar konkretisiert Ali Ergin Demirhan den Rahmen, den er in seinem Artikel in sendika.org gezogen hat, und verweist auf vier Begriffe, die notwendig sind, um eine “andere Landschaft” zu sehen: “die historische Krise des Kapitalismus”, “Faschismus als Krisenmanagement”, “das Zeitalter des Widerstands” und “Klassenkampf”.
Demirhan sagt: “Die Suche nach einer Demokratisierung innerhalb des Systems ist ein schwerer Fehler. Die Krise dieses Systems kann nicht gelöst werden, aber sie kann bewältigt werden, und die Notwendigkeit, diese Krise zu bewältigen, lädt zu faschistischen Optionen ein.”
Zur Abkopplung der türkischen Linken von der Arbeiter*innenklasse sagt er: “Die Linke der Türkei, ihre Kader, ihr Rückgrat und die Basis, auf die sie sich heute stützt, sind weitgehend auf die proletarisierten Schichten des Kleinbürgertums beschränkt, die ihre Positionen verloren haben. Das bestimmt uns”, und wirft damit zwei sehr wichtige Fragen auf:
“Warum haben die Sozialist*innen das Bedürfnis, nationale Feiertage zu feiern wie nie zuvor? Warum sind wir so ‘republikanisch’ geworden?”
Die Wahlstrategie der Opposition, die dazu neigt zu glauben, dass “leere Töpfe Wahlen verlieren lassen”, dass die Regierung aufgrund der Wirtschaftskrise stürzen wird und dass die Türkei aufgrund ihrer “geopolitischen Lage” und ihres “kulturellen Kapitals” nicht “so weit zurückgehen” kann, erklärt sich mit der Distanz zur Wahrheit, die sowohl aus der Kleinbürgerlichkeit als auch aus der Positionierung innerhalb der bestehenden Ordnung resultiert.
- Korkut Boratav, einer der angesehensten Ökonom*innen der Linken der Türkei, macht eine Beobachtung, die für diejenige nicht leicht zu hören ist, die ihren politischen Horizont auf die “spontanen” Möglichkeiten reduzieren, die die Krise angeblich schafft:
“Es gibt keine (wirtschaftliche) Krise in der Türkei, es gibt eine soziale Krise.”
Boratav sagt: “Die Wahlen im Mai haben die Türkei fast genau in zwei Teile gespalten. Diese Spaltung hat auch innerhalb der werktätigen Klassen stattgefunden” und ergänzt zum Kampf gegen den AKP-MHP-Faschismus:
“Diese Regierung kann nicht besiegt werden, ohne die ideologische Dominanz der AKP in den Reihen der Volksschichten zu beseitigen. Der islamistisch-nationalistische Gegenangriff, der bei den letzten Wahlen erfolgreich war, wurde von den AKP-Organisationen verbreitet”.
- In seinem Artikel in Yeni Özgür Politika fasst Selahattin Erdem den Ansatz des Prozesses, der zur Gründung der HDK/HDP führte, in folgenden Sätzen zusammen:
“Ziel war es, eine ‘freie Bürger*innenbewegung’ zu schaffen[…]. Denn mit der Definition der Staatsbürgerschaft in der türkischen Verfassung war es nicht möglich, Mitglied einer demokratischen Nation und Gesellschaft zu sein. Dazu bedurfte es eines bewussten freien Bürgers. Da dies nicht der Fall war, musste eine solche Bürgerschaft durch Bildung und Propaganda geschaffen werden. Das wurde versucht.”
Erdem erklärt, dass das Konzept der “Nation der Türkeier*innen” etwa zur gleichen Zeit in den Diskussionen der kurdischen Befreiungsbewegung auftauchte und dass diese “übergreifende Identität” auf einer “bewussten und organisierten Gesellschaft in all ihren Aspekten basieren sollte, so dass sie keine Staatsnation sein würde”.
- In einem Interview mit der Zeitschrift Ayrıntı sagte Ertuğrul Kürkçü, eines der führenden Mitglieder des Gründungskreises der HDK/HDP, dass die HDP als “ein Parteimodell aufgebaut wurde, das das Spiegelbild, das Abbild einer Volksbewegung sein könnte”.
Kürkçü erklärt den Hauptunterschied zwischen der HDP und der ÖDP damit, dass “die HDP auf der Grundlage einer in vollem Gange befindlichen Volksbewegung gegründet wurde, während die ÖDP auf der Entschlossenheit der besiegten Linken basierte, sich wieder zu etablieren”, und fügt hinzu: “Mit anderen Worten, die eine basierte auf der Materie, die andere auf Ideen”.
Zeigen diese vier Ansätze nicht, dass der “gemeinsame Kampf” zu einer epistemologischen Notwendigkeit geworden ist – geschweige denn zu einer politischen?
Natürlich sind die vielen Beispiele der (aktuellen) politischen Einheit von Schicksalsgenoss*innen wie eine große Schule, aber ist es nicht an der Zeit für eine gemeinsame Identität, die unsere Schicksalsgemeinschaft mit dem Leben und den Kämpfen um Hegemonie verbindet?
Werden wir auf die soziale Krise mit Methoden reagieren, die eine sozialpädagogische “Verdrängung” hervorrufen, oder werden wir versuchen, sie auf der Grundlage revolutionärer Möglichkeiten zu “vertiefen”? Wenn letzteres zutrifft, wie und als wer?
- DAS BEWUSSTSEIN: TRANSPORTIEREN ODER ORGANISIEREN?
Das Buch “Marxismus und Sprachphilosophie” des sowjetischen Linguisten Valentin Nikolajewitsch Woloschinow (1895-1936) (dessen eigentlicher Autor nach einigen Behauptungen Michail Bachtin war) enthält eine der ersten wichtigen Feststellungen zu dem erkenntnistheoretischen Problem, das noch heute viele unserer Diskussionen begleitet.
Woloshinow nennt “das Fehlen präziser und allgemein akzeptierter Definitionen des Wesens ideologischer Phänomene in der marxistischen Literatur” als ein Phänomen, das die Untersuchung der Sprachphilosophie (und damit der sprachlichen Quellen der Ideologie) erschwert, und spricht eine wichtige “Warnung” aus:
“In allen Wissensgebieten, die die Begründer des Marxismus, nämlich Marx und Engels, nicht oder nur kursorisch berührt haben, haben sich mechanistische Kategorien durchgesetzt. Alle diese Wissensgebiete stecken noch im vordialektischen Stadium des mechanischen Materialismus fest. Das zeigt sich auch daran, dass in allen Bereichen der Ideologieforschung bis heute die Kategorie der mechanischen Kausalität dominiert. Neben dieser mechanischen Kausalität steht die noch nicht überwundene positivistische Auffassung der empirischen Daten – die Glorifizierung des “Phänomens” als etwas Fixes und Statisches, das nicht dialektisch verstanden wird. Man kann kaum behaupten, dass sich der philosophische Geist des Marxismus in diesen Bereichen niedergeschlagen hat.”
Im weiteren Verlauf des Buches entwickelt und präzisiert Woloschinow diesen Zusammenhang:
“Das Wort ist der Motor des Sprachwandels, aber es ist kein individuelles Phänomen. […] das Wort [ist] der Schauplatz, an dem widersprüchliche soziale Merkmale aufeinanderprallen; sprachliche Konflikte spiegeln Klassenkonflikte im Zentrum des Systems wider: Semiotische Gemeinschaft und soziale Klasse stimmen nicht überein. Andere Kommunikationen beinhalten Beziehungen des Konflikts, der Herrschaft, des Widerstands, der Konformität oder des Widerstands gegen die Hierarchie, des Gebrauchs der Sprache zur Festigung der Macht der herrschenden Klasse usw. Wenn Klassenunterschiede mit Unterschieden der Ordnung oder sogar des Systems zusammenfallen (z.B. die sakrale Sprache der Priester, der ‘Sprachterrorismus’ der gebildeten Klasse usw.), wird diese Beziehung noch deutlicher”.
Marina Yaguello, die die französische Ausgabe des Buches vorstellt, fasst dasselbe Problem mit anderen Worten zusammen:
“Nur die Dialektik kann diesen scheinbaren Widerspruch zwischen Einheit und Pluralität der Bedeutung auflösen. Der abstrakte Objektivismus bevorzugt willkürlich die Einheit, um ‘das Wort in ein Wörterbuch zu stecken’. Das Zeichen ist von Natur aus lebendig, beweglich und polysem; die herrschende Klasse betont das Zeichen einseitig in ihrem eigenen Interesse”.
Für den Marxismus bedeutet “sich von der Wahrheit entfernen” den Versuch, sie “in ein Wörterbuch zu stecken”, und wenn wir uns von der Wahrheit entfernen, verschwindet die Möglichkeit, sie zu verändern.
Zweifellos ist es unser Bewusstsein, das uns die Mittel an die Hand gibt, über die Objektivität nachzudenken, sie zu verstehen und zu verändern. Das Bewusstsein (auch in seiner individuellen Form) ist ein “sozial-ideologisches Phänomen”. Ein Satz von Marx aus der “Deutschen Ideologie” kann hier hinzugefügt werden:
“Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens”.
In den Worten Woloschinows:
“Der wirkliche Platz des Ideologischen in der Existenz ist im Material der spezifischen, vom Menschen geschaffenen sozialen Zeichen zu finden. Die Besonderheit des Ideologischen ergibt sich aus der Tatsache, dass es sich zwischen organisierten Individuen befindet, dass es das Medium der Kommunikation zwischen Individuen ist”.
Obwohl die Verbindung des Bewusstseins mit der Praxis, mit der “wirklichen Sprache des Lebens”, den wichtigsten erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt für sein Verständnis darstellt, macht sie es nicht einfach. Das Bewusstsein bleibt das komplexeste und hinsichtlich seiner Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten “mysteriöseste” Phänomen der menschlichen Aktivität. Es scheint notwendig, an dieser Stelle eine andere marxistische Definition des Bewusstseins zu erwähnen, die von Woloschinow stammt, weil sie die Möglichkeit bietet, auf einer anderen Ebene den wichtigsten Scheideweg zu erklären, an dem unsere Diskussionen (und unser Verständnis) blockiert sind:
“Die einzig mögliche objektive Definition des Bewusstseins ist eine soziologische. Im Gegensatz zu dem, was der mechanische Materialismus und die zeitgenössische objektive Psychologie (biologischer, verhaltenstheoretischer und reflexologischer Art) in Vergangenheit und Gegenwart versucht haben, kann das Bewusstsein nicht direkt aus der Natur abgeleitet werden.
Im Gegensatz zu den Praktiken des Idealismus und des psychologischen Positivismus kann die Ideologie nicht aus dem Bewusstsein abgeleitet werden. Das Bewusstsein nimmt Form und Existenz im Material der Zeichen an, die von einer organisierten Gruppe im Prozess ihrer sozialen Interaktion geschaffen werden. Das individuelle Bewusstsein speist sich aus Zeichen, die Quelle seiner Entwicklung sind Zeichen; es reflektiert die Logik und die Gesetze der Zeichen. Die Logik des Bewusstseins ist die Logik der ideologischen Kommunikation, die Logik der semiotischen Interaktion einer sozialen Gruppe.
Wenn wir das Bewusstsein seines zeichenhaften, ideologischen Inhalts entkleiden, bleibt absolut nichts mehr im Namen des Bewusstseins übrig. Der einzige Ort, an dem sich das Bewusstsein aufhalten kann, ist das Bild, das Wort, die bedeutungsvolle Geste etc. Außer diesen Materialien bleibt nur der rein physiologische Akt, den das Bewußtsein nicht erhellt; das heißt, der rein physiologische Akt, den das Bewußtsein nicht erhellt, dem die Zeichen keine Bedeutung geben”.
Konstitutiver Antagonismus
Viele Teile der sozialistischen Bewegung in der Türkei diskutieren über die neue Identität des Proletariats. Es ist nur zu offensichtlich, dass diese Suche, bei der es auch um “Klassenbewusstsein” geht, nicht erfolgreich ist, weil sie keinen klaren Körper gefunden hat.
Einer der Gründe für dieses Scheitern ist die immer größer werdende Kluft zwischen theoretischer Suche und praktischer Erfahrung. Man kann aber auch denken, dass der Versuch, die heutige Gesellschaft mit veralteten Instrumenten (neu?) zu analysieren, die Suche nach den Manifestationen der Produktionsverhältnisse im Leben von vornherein zum Scheitern verurteilt hat.
Gramsci, der erklärt, dass “die ökonomischen Widersprüche sich in der Geschichte des Kapitalismus ständig in politische Widersprüche verwandeln” und dass sie “politisch in der (radikalen) Transformation der Praxis/Handlung” gelöst werden, beschreibt die Homogenisierung der Arbeiterklasse (von der erwartet wird, dass sie Trägerin des Klassenbewusstseins ist) in der fordistisch-tayloristischen Produktionsordnung wie folgt:
“In der Fabrik wird die Arbeiterklasse zu einem bestimmten ‘Produktionsinstrument’ in einer bestimmten organischen Verfassung; jeder Arbeiter wird ‘zufällig’ Teil dieses konstituierten Ganzen: zufällig, soweit es seinen Willen betrifft, aber nicht zufällig, soweit es seine Aufgabe betrifft, eine bestimmte Notwendigkeit des Arbeits- und Produktionsprozesses dar, und nur deshalb wird er eingestellt, nur deshalb kann er sein Brot verdienen: er ist ein Rad der Maschine der Arbeitsteilung, das heißt, der sich in einem Produktionsinstrument determinierenden Arbeiterklasse.”
Das damalige fordistische Arbeitsregime, das auch die politische Linie des kommunistischen Kampfes in den Industrieländern bestimmte, ließ Institutionen wie Gewerkschaften, Betriebsversammlungen und nach und nach auch sozialdemokratische Parteien entstehen.
In diesem Prozess liegt auch eine Ursache für die Absorbierung der marxistischen Erkenntnistheorie durch die bürgerliche Gesellschaft und den Positivismus, denn die “Praxis” sollte eine “organische” Opposition gegen die damalige kapitalistische Produktionsweise hervorbringen – eine Opposition, die den Anspruch erhob, diese durch die “Übernahme ihrer Macht” zu stürzen.
Das Handicap, dass sich die sozialistische Bewegung und der Kapitalismus “gegenseitig konstituieren”, wird von Gramsci in seiner Diskussion mit den Syndikalist*innen offengelegt:
“Der schwerste Fehler der sozialistischen Bewegung entsprach dem Kardinalfehler der Syndikalisten. Indem sie an der allgemeinen Aktivität der menschlichen Gesellschaft im Staat teilnahmen, vergaßen die Sozialisten, daß ihre Position wesentlich kritisch, antithetisch bleiben mußte. Sie ließen sich von der Wirklichkeit absorbieren, sie beherrschten sie nicht.”
Konkretisiert werden soll: Die Arbeiter*innenbewegung/sozialistische Bewegung, die zu einer der Geschichten des “Kompromisses” des kapitalistischen Staates wurde, begann, so Gramsci, “den strukturellen Reformismus der passiven Revolution” zu bedeuten – die Arbeiter*innenklasse (mitsamt ihrem Bewusstsein) war an den bürgerlichen Staat gebunden.
Gramsci definiert den Staat als ein Gebilde, das “nicht durch Gewalt allein existiert”, und er beschreibt den “westlichen Staat” (man kann ihn auch Nationalstaat nennen) konkret als “einen vorgeschobenen Schützengraben, hinter dem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befindet”, und er verwendet den Begriff “Zivilgesellschaft” als Oberbegriff für das Gebilde, das die Festungen und Kasematten ausmacht.
In diesem Sinne beruht das Handeln des Staates neben der auf Zwang beruhenden Herrschaft auch auf Hegemonie im Sinne von “kultureller und moralischer Führung”. Dieses Verständnis erlaubt es Gramsci, den Staat nicht nur als ökonomisch-politische oder militärische Macht, sondern auch als “pädagogische” Macht zu definieren und zu abstrahieren.
Die Ideologie stellt in diesem Zusammenhang den wichtigsten Bereich dar, um den gekämpft wird. Da diese Denkweisen als Vergesellschaftungsideale von oben die Grundlage gesellschaftlichen Handelns bilden, korrespondieren sie immer auch mit materieller Gewalt. Auch diese wird zum Kampffeld, in dem das alltägliche Denken und Handeln bestimmt wird. Dieser Kampf (oder Eingriff), der überall “bis hin zur Architektur, zur Anlage der Straßen und zu den Namen derselben” reicht, bringt eine bewusste, aber fremdbestimmte Subjektform hervor.
Die Aneignung des Alltagsverstandes und bestimmter Formen des kulturellen und moralischen Denkens wird zur Grundvoraussetzung für die Stabilität der Hegemonie. Nach Gramsci strebt jeder Staat danach, eine bestimmte Form der Zivilisation und des Bürgers (und damit des Zusammenlebens und der [individuellen] Beziehungen) zu schaffen und zu erhalten, bestimmte Gewohnheiten und Verhaltensformen zu zerstören und andere zu popularisieren.
Notwendigkeiten einer konstitutiven Politik
Für den kommunistischen Philosophen Alain Badiou bedeutet die Finanzkrise von 2008 mit ihren Folgen der “Vernichtung der Schwachen und Stärkung der Starken” noch lange nicht “das Ende des Kapitalismus”, auch wenn sie die “Sozialgesetzgebung” weitgehend demontiert habe:
“Die Ausdehnung der kapitalistischen Herrschaft auf riesige neue Gebiete, die intensive und umfassende Diversifizierung des Weltmarktes ist noch lange nicht abgeschlossen. Praktisch ganz Afrika, ein bedeutender Teil Lateinamerikas, Osteuropa, Indien … viele Orte des ‘Übergangs’, die dem Beispiel Japans und Chinas folgen könnten oder sogar sollten, sind Zonen der Ausbeutung oder ‘Entwicklungsländer'”.
Badiou verweist auf “China und Indien, die allein 40 Prozent der Arbeitskräfte der Welt ausmachen”, und auf die “katastrophale Deindustrialisierung” des Westens als wichtigen Teil der Hegemoniekrise des Kapitalismus und argumentiert, dass “das Fortbestehen nationaler Formen, die unvermeidlich miteinander konkurrieren”, “die Integration der Finanz- und Handelskreisläufe in einen einzigen Weltmarkt auf der Ebene der Massenpolizei” verhindere und dass “seine Hegemonie sich auf die Weltmärkte ausdehnen, die Möglichkeit eines Weltkrieges mit der Entstehung eines eindeutig hegemonialen Staates” eröffnen werde.
Badiou weist darauf hin, dass es auf der Welt “zwischen zwei und drei Milliarden” besitzlose und landlose Menschen gibt, (“weder Bauern noch Kleinbürger noch Arbeiter”) die “auf der Suche nach einem Platz durch die Welt ziehen”, und sagt, dass diese Menschen “ein nomadisches Proletariat bilden, das, wenn es sich politisiert, zu einer entscheidenden Bedrohung für die etablierte Ordnung wird”.
Badiou weist darauf hin, dass Aufstände “ohne organisatorischen Plan” schließlich “von den Verlockungen der Wahlen unterdrückt” werden. Am Beispiel Ägyptens weist er auf die Gefahren eines “vom Feind geliehenen Vokabulars” hin und erinnert an die Wall-Street-Proteste in den USA, die zur Wahl Trumps “beitrugen”, und an die “Nuit debout” in Frankreich, die zur Wahl Macrons führte.
Was sind die Voraussetzungen für eine “konstituierende Politik”, die nicht in diese Fallen tappt? Badiou gibt folgende Antworten:
- “Die wichtigsten Slogans müssen affirmativ sein und ein konstruktives Urteil abgeben, anstatt sich auf Klage und Anklage zu beschränken. Dies muss auch um den Preis einer internen Spaltung geschehen, die entsteht, wenn die Bewegung über ihre negative Einheit hinausgeht.
- Die Parolen müssen strategisch begründet sein. Das bedeutet, dass die Slogans auf der Kenntnis der bisherigen Etappen der Frage, die die Bewegung auf ihre Tagesordnung gesetzt hat, beruhen müssen.
- Die verwendete Terminologie muss geordnet und kohärent sein. Heute ist zum Beispiel “Kommunismus” unvereinbar mit “Demokratie” und “Gleichheit”, unvereinbar mit “Freiheit”. Alle positiven Verwendungen des identitären Vokabulars wie “französisch”, “internationale Gemeinschaft”, “Islam” oder “Europa” sowie psychologische Ausdrücke wie “Begehren”, “Leben”, “Individuum” und Begriffe, die mit der etablierten staatlichen Ordnung verbunden sind wie “Bürger”, “Wähler” usw. müssen verboten werden.”
Badiou sagt, es gebe “keine wirkliche politische Organisation mehr” und die “Aufgabe” bestehe darin, “Wege zu finden, diese Organisation zu rekonstruieren”; er warnt jedoch eindringlich vor den Handicaps der “traditionellen Partei”:
“Wir müssen alle Formen der Repräsentationslogik aufgeben. Die Definition der politischen Organisation muss instrumentell sein, nicht repräsentativ. Außerdem spricht jeder, der von ‘Repräsentation’ spricht, von der ‘Identität des Repräsentierten’. Identitäten müssen aber außerhalb der politischen Sphäre bleiben.”
Laut Badiou besteht das eigentliche Ziel darin, “den Staat ständig mit feindlichen Ideen und politischen Räumen zu umzingeln, die sich ihm widersetzen”.
Badiou erinnert an Maos Feststellung, dass revolutionäre Politik ohne “ideologische Vorbereitung des Denkens” unmöglich sei, und konstatiert einen Bruch zwischen der internationalen Produktionsweise des Kapitalismus und der “erzwungenen staatlichen Patronage auf nationaler Ebene”, der die in verschiedenen Teilen der Welt stattfindenden Kriege in einen “totalen Krieg, der die Existenz der gesamten Menschheit bedroht”, verwandeln könnte, und zitiert an dieser Stelle Lenin:
“Entweder verhindert die Revolution den Krieg, oder der Krieg entzündet die Revolution”.
V. EIN KAMPF, EIN WIDERSTAND
“Nicht ein Staat, nicht eine Fahne,
ein Kampf, ein Widerstand!”
Der Krieg ist nach wie vor das wichtigste konstituierende Element, insbesondere in Konfliktregionen wie dem Nahen Osten, aber auch überall dort, wo sich die internationale Schicksalsverbundenheit des Proletariats verschärft. Gesellschaften werden durch die Ordnung des Krieges (wieder) gefestigt, und der Kampf um die Bewältigung der unmittelbaren Folgen des Kriegszustands prägt (immer stärker) die Politik.
Man kann sagen, dass die heutige türkische Gesellschaft eine Gesellschaft ist, die im Wesentlichen auf dem Schlachtfeld und/oder auf dem Kriegsschauplatz aufgebaut und zerstört wird, nicht nur wegen der Ereignisse seit 2015 und der Aktualisierung und Verschärfung der konstitutiven Kraft der Gewalt, sondern auch, weil sie sich in eine Kriegspartei verwandelt hat (deren Schicksal mit dem Ausgang des Krieges verbunden ist), wie wir an vielen Beispielen sehen können, z.B. an den Fragen der (Flucht-)Migration, des Islamismus, der Verschärfung des Krieges in Kurdistan, der neuen politischen und wirtschaftlichen Türen, die die Rüstungsindustrie und die Rüstungsexporte geöffnet haben, und der Legitimation, die der Kriegsdiskurs dem Faschismus verschafft hat.
Foti Benlisoy argumentiert, dass “in unserer Zeit, in der wir von einer Katastrophe in die nächste stolpern, in der der Zustand der permanenten Krise eher die Norm als die Ausnahme geworden ist, die Katastrophe zu einem zentralen Feld des Kampfes geworden ist” und verweist auf eine wichtige Voraussetzung für das Verständnis dieser Norm, einschließlich der Klimakatastrophe, die drei Viertel der Türkei von der Wüstenbildung bedroht:
“So wie es unmöglich ist, den ‘autoritären’ Charakter der gegenwärtigen politischen Macht zu diskutieren, ohne das Thema des Kapitalismus zu eröffnen (d.h. das autoritäre Arbeitsregime zu diskutieren), so ist es auch unmöglich, seine Verwandtschaft mit der Katastrophe zu verstehen”.
Unter Bezugnahme auf die These des Kommunistischen Manifests, dass die Bourgeoisie versucht, die von ihr verursachten Krisen zu überwinden, indem sie den Weg für noch tiefere und zerstörerischere Krisen ebnet und die Mittel zu ihrer Verhinderung blockiert, kommt Benlisoy zu dem Schluss, dass in diesem Fall “die Gefahr oft noch größer ist, als man denkt”, und verweist auf Gramscis Aufruf vom 1. Mai 1919:
“Bildet euch, denn wir werden euren ganzen Verstand brauchen. Erwacht, denn wir werden euren ganzen Enthusiasmus brauchen. Organisiert euch, denn wir werden eure ganze Kraft brauchen”.
Auch Evren Balta zitiert Gramsci in ihrer Diskussion über den aufkommenden Populismus:
“Die alte Welt stirbt, die neue Welt kämpft um ihre Geburt: Jetzt ist die Zeit der Monster”.
Unter Verweis auf Naomi Kleins These von der “Schockdoktrin”, die zeigt, dass “Krisensituationen das normale Funktionieren der Ordnung stören und Gelegenheiten zur Umstrukturierung und Neugestaltung der Politik schaffen” und die im Zusammenhang mit der Türkei viel diskutiert wurde, verweist Balta auf die Definition von Pat Phelan, um die Zeiten zu verstehen, in denen sich das Hauptziel des Krieges von der “Vernichtung des Feindes zur Erlangung psychologischer Überlegenheit” verschoben hat.
In diesem “neuen Krieg” verschwindet die Unterscheidung zwischen Front und Hinterland, zwischen Soldaten und Zivilisten. Die gesamte Bevölkerung wird in den Krieg hineingezogen, stärker und intensiver als je zuvor – der Krieg wird politisiert und die Politik wird zum Krieg, nach dem Muster, das Eric Hobsbawn für die Kriege des 20. Jahrhunderts formulierte.
In ihrer Studie, in der Bahar Şimşek und Joost Jongerden die Form(en) von Sozialität insbesondere im Mittleren Osten anhand des Widerstands in Kobanê analysieren, verweisen sie auf die gegenwärtige Krise der kapitalistischen Nation und des Nationalstaats, indem sie sich auf den Satz von Ernest Gellner beziehen:
“Nationalismus ist nicht der Prozess, durch den Nationen zu ihrem eigenen Selbstbewusstsein erwachen; er erfindet Nationen, wo es keine gibt.”
Die sozialen und politischen Folgen dieser Krise bilden nicht nur den Nährboden, auf dem Kämpfe gedeihen, die vorgeben, eine Alternative zum Kapitalismus zu sein, sondern auch eine der Hauptfronten des Krieges, da sie Tendenzen wie dem “Islamischen Staat” (den wir vielleicht als “den radikalsten und kriegerischsten Aspekt des Populismus” bezeichnen können) Nahrung geben.
Kîne em? Kimiz biz? Wer sind wir?
Man kann sagen, dass die Arbeit der “freien Bürger*innen”, die Selahattin Erdem in seinem oben zitierten Artikel hervorhebt, mit einer Generation verbunden ist, in der die kurdische Identität stärker als je zuvor politisiert wurde. Die Gründung von “Eşit Özgür Yurttaş Dernekleri” (Vereine der Gleichberechtigten und Freien Bürger*innen) und später von “Halk Meclisleri” (Volksräte) in ganz Kurdistan kann als eine der nächsten Quellen der hegemonialen Macht der HDP in der Region betrachtet werden, die bis heute anhält. Anhand dieses Beispiels kann davon ausgegangen werden, dass es nicht in erster Linie um die “Professionalisierung” der Kommunikationskanäle geht, sondern um deren Organisation im Gemeinwesen.
“Die Befreiungsbewegung hatte eine sehr klare Vorstellung davon, dass sie mit ihren Zielen und Forderungen in der Türkei Legitimität erlangt hatte und dass diese Bewegung ein konstitutives Element werden und in das politische Leben der Türkei eintreten sollte”, beschreibt Ertuğrul Kürkçü den Gründungsprozess der HDK.
Es liegt auf der Hand, dass die HDK, die “als ein Ort der sozialen Organisation der Völker und der Zusammenführung von Demokratie-, Identitäts-, Gender-, Glaubens- und Denkbewegungen institutionalisiert wurde”, auch als ein Instrument im Kampf um die Integration der kurdischen Identität in das politische Leben der Türkei gedacht war.
Wie jedoch Hamit Bozarslan feststellt: “Wie die von Marx erwähnte deutsche Ideologie, gibt es auch eine türkische Ideologie”.
“Worauf gründet sich der ideologische Diskurs, der betont, dass das Türkentum eine historische Mission der Dominanz und Überlegenheit hat?”, fragt Bozarslan und fügt hinzu:
“Heute gibt es eine starke kurdische Bewegung, die diese Ideologie des Türkentums in Frage stellt und kritisiert, aber eine sehr schwache demokratische Bewegung in der Türkei.”
Bozarslan stellt fest, dass es in der Türkei eine “demokratische Pädagogik” braucht und sagt, dass “die kurdische Bewegung dazu beitragen kann, aber sie kann es nicht alleine tun”.
Was Bozarslan als “demokratische Pädagogik” bezeichnet (in Anlehnung an die von Franco “Bifo” Berardi hergestellte Verbindung von Politik und Therapie), lässt sich auch als revolutionäre Politik übersetzen. Die revolutionäre Politik ist jedoch selbst eine leere Phrase, und über ihre tatsächliche Form kann erst entschieden werden, wenn ihr Inhalt bestimmt worden ist.
Dieser Weg führt uns zu derselben Frage zurück: Wessen revolutionäre Politik? Kîne em? Kimiz biz? Wer sind wir?
VI. FÜR EINE DEMOKRATISCHE TÜRKEI DER ARBEITER*INNEN
Die jüngste von der EU geplante Reform des “Gemeinsamen Europäischen Asylsystems” (GEAS) enthält einen bemerkenswerten Begriff: “die Fiktion der Nicht-Einreise”.
Auf der Website des Deutschen Bundestages wird die Bedeutung der “Fiktion der Nichteinreise” mit folgendem Satz erläutert:
“Die Fiktion der Nichteinreise bezeichnet die juristische Konstellation, dass ein Ausländer rechtlich betrachtet noch nicht eingereist ist, obwohl er tatsächlich bereits die physische Grenze eines Staates passiert hat”.
Die europäische Justiz braucht diese Fiktion, denn der Mensch, der hinter den Grenzen rechtlich völlig gleichgültig ist, bringt ihre Verantwortung zum Vorschein, sobald er die europäischen Grenzen überschreitet. Dem Flüchtling die Rechte zu gewähren, die ihm nach dem Grenzübertritt zustehen, führt zu einer Krise des Regierens, also sucht man nach einem Weg, ihm diese Rechte zu verweigern, und findet die Lösung in dieser “genialen” Fiktion: Man tut so, als hätte der Flüchtling die Grenze nie überschritten!
An den Grenzen der zentralkapitalistischen Länder werden die Menschenrechte in einem Umfang getestet, wie sie es in ihrer Geschichte noch nie erlebt haben. In diesem(n) Prozess(en) zeigt sich auch der biopolitische Charakter der Menschenrechte am schärfsten. Die gleichzeitig in Deutschland aufkommende Debatte um den “Fachkräftebedarf” offenbart einmal mehr die Unmenschlichkeit der kapitalistischen Ordnung, in der der Markt über den Grad des Menschseins entscheidet, und warum der Kapitalismus die legitimste Adresse für unseren berechtigten Hass ist.
So sehr dieses Beispiel bestätigt, wie sehr das Recht mit kapitalistischen Interessen verbunden ist, so sehr verweist es auch auf die Hegemonie, die hinter der Gewalt und dem Elend steht, die sich in den “Pushbacks” an den Grenzen und im Herzen des Mittelmeers manifestieren – auf die “permanente Kette von Festungen und Kasematten”, die wirtschaftliche und ideologische Vorherrschaft des Finanzkapitals.
Die Frage, die sich stellt, ist, wo man die Gegenfront aufbauen kann?
Kann zum Beispiel der Versuch, zu beweisen, dass Menschen “wirklich” Grenzen überschreiten, eine Methode sein, um gegen die Fiktion der Nichteinreise zu kämpfen? Ist es möglich, darauf hinzuweisen, dass diejenigen, deren Menschenrechte mit Füßen getreten werden, “auch” Menschen sind, und sogar Kampagnen zu organisieren: “Seht her, sie sind wirklich ‘auch’ Menschen”? Ist es möglich, dass eine Identität, die innerhalb der Achse der Menschenrechte organisiert ist, “auch-Menschen” einschließt, allenfalls als den organischen Gegensatz der (vermeintlichen) Menschenfeinde?
Es ist durchaus zulässig, die Situation der Kurd*innen in der Türkei auch in Bezug auf dieses Beispiel zu verstehen. Als “auch-Menschen” der Türkei befinden sich die Kurd*innen im Bereich einer massiven Entmenschlichung (und damit Abkoppelung von ihrer eigenen Geschichte) und Entrechtung. Das Kurdentum wird in der Bestimmung (zumindest im Schatten) dieses Angriffs konstruiert.
In einem Interview mit 1+1 Express fasst der in der HDP organisierten Autor Özgür Amed seine Situation so zusammen:
“Als Individuum oder als Gesellschaft darf ich kein stabiles Leben, keine stabile Wahrnehmung, kein stabiles Selbstbild haben. Das ist totaler Krieg. Es ist nicht nur ein Krieg im klassischen Sinne, der Staat führt einen raffinierten Krieg gegen mich.”
Amed stellt fest, dass “eine Analyse, die sich nicht an die Ereignisse der letzten acht Jahre” in Kurdistan erinnert, auch Schwierigkeiten hätte, die “politische Depression” zu verstehen, zu der sie geführt haben, und verweist auf den “Geburtsprozess” der Ereignisse von 2015, die inzwischen als Meilenstein der jüngsten Transformation des Staates anerkannt werden:
“Die Geburt des neuen Krieges oder der neuen Transformationspolitik war der 6.-8. Oktober 2014. Nach den Protesten an diesem Tag setzte der Staat am 30. Oktober 2014 den ‘Çöktürme Planı’ (‘Kollaps-Plan’) des Nationalen Sicherheitsrates in Kraft. Schritt für Schritt finden wir darin klare Aussagen, wie viele Tausende Menschen verhaftet und wie viele Orte geräumt werden sollen. Der Bericht enthält auch Aussagen darüber, wie sich alle bürokratischen Mechanismen verhalten werden und in welcher Stimmung sie agieren werden. Wir können den ‘Kollaps-Plan’ auch als den zweiten Şark Islahat Planı (Plan zur Reform des Ostens) betrachten”.
Zur Krise der kurdischen Politik bemerkt Amed:
“Die kurdische Politik hat eine Krise der Vermittlung und der Geschichte erlebt. Eine neue Geschichte konnte nicht geschaffen werden. Die Transformation des Staates wurde nicht als ‘Prozess’, sondern als ‘Ergebnis’ betrachtet. Dieser Transformation wurde mit klassischen Instrumenten, Methoden und Diskursen begegnet. Während sich der Staat veränderte, veränderten wir uns nicht.”
Ameds Beobachtungen scheinen auf das Problem der Bürokratisierung/Konservatisierung sowohl der kurdischen Befreiungsbewegung als auch der sozialistischen Bewegungen in der Türkei hinzuweisen (was besonders in den Kanälen des ideologischen Kampfes schwerwiegende Folgen hatte). Amed drückt in den folgenden Sätzen das Potential aus, das die Quelle einer praktischen Transformation in dieser Linie sein könnte:
“Ich sehe das Bild, das sich vor allem nach der Wahl ergeben hat, als positiv an, weil es uns eine neue Lesart vor Augen führt. Es gibt eine Phase des Chaos, in der man entweder in ein schwarzes Loch fällt oder gestärkt daraus hervorgeht. Wenn dieser Prozess selbst einen daran erinnert und dazu zwingt, sich selbst aufrichtig zu sehen, nach innen zu schauen, und man sich dem nicht entziehen kann, wird es definitiv einen Sprung geben.”
Abschied und Aufbau
Es würde den Rahmen dieses Artikels (und seines Verfassers) sprengen, seine Anliegen in konkrete Vorschläge zu überführen, die in der Praxis umgesetzt werden können. Unter diesem Vorbehalt möchte ich einige allgemeine Vorschläge machen.
Es reicht nicht aus, die Tatsache, dass alle widerständigen Stimmen in der Türkei zwischen zunehmendem Pessimismus und Nihilismus schwanken, auf die konkreten Verhältnisse zu beziehen. Es kommt immer noch darauf an, sie zu verändern. Dies ist der Scheideweg, an dem sich der Pessimismus der Hoffnung, der Niedergang der Erneuerung und die große Verzweiflung der Abhilfe münden.
Unter diesen Umständen scheint die einzige Lösung darin zu bestehen, einen soliden, aber mutigen Plan für die Zukunft zu entwerfen, ihn im Leben umzusetzen, sich zu bemühen, die demokratische Türkei der Arbeiter*innen, Entrechteten, Verarmten und Unterdrückten zu einem immer stärkeren Körper zu entwickeln und die gesammelten Erfahrungen zu diesem Zweck zu nutzen.
Wenn wir annehmen, dass die Antwort auf die Verzweiflung nur eine kommunistische sein kann, die mit der “Poesie von morgen” organisiert wird, kommen wir zur ersten “Stellenbeschreibung” auf diesem Weg: Die Kommunist*innen stehen vor der Verantwortung, die revolutionäre Wahrheit von heute zu schaffen. Die Zeit ist “günstig” für den Kommunismus als ein Imaginärum, das in der Gegenwart “lebt”. Die Entfremdung hat solche Ausmaße angenommen, dass wir sie nur an ihren Wurzeln erschüttern können. Der Kommunismus ist immer noch die menschlichste und grundlegendste Antwort, aber er kann nicht organisiert und sichtbar gemacht werden in der “Kakofonie” der (Mikro-)Identitäten des Status quo und der traditionellen Identitäten, die der neoliberalen Degeneration erlegen sind, und unter dem Alptraum der eigenen “sozialistischen” Vergangenheit. Dies weist auch auf die Notwendigkeit hin, sie über diese Kontexte “zu erheben” und sie somit im Angesicht all dieser “Kakophonie” neu zu definieren.
Es wird immer deutlicher, dass der Kommunismus die einzige revolutionäre “Stütze” ist, auf die sich diejenigen stützen können, die versuchen, die verschiedenen Linien der Linken mit den Dynamiken des Widerstands und der Dissidenz der Bevölkerung zu vereinen. Das Problem liegt in der Konstruktion der Mittel (des politischen Kampfes), die den Kommunismus in die Alltagspolitik übersetzen können.
In dieser “Kakophonie” werden die kurdische Frage “Kîne em?” und die türkische Frage “Kimiz biz?/Wer sind wir?” nun miteinander verwechselt, und sogar “Kimiz biz?” übertrifft “Kîne em?” in Bezug auf das Ausmaß seines Gemurmels, seiner Unruhe und seiner Antwortlosigkeit. Die “essentielle” Intervention des HDK füllt und vertieft diesen Riss: Zum ersten Mal versuchen “wir”, uns in einem unabhängigen politischen Körper zu vereinen.
Es zeigt sich, dass auch die Arbeiter*innenpartei der Türkei (TİP) sich dieses Risses bewusst ist, dass sie versucht, eine Sprache zu entwickeln, die lernt, während sie tut, und dass eine der wichtigsten Diskussionen innerhalb der Partei durch diesen Impuls/Widerstand bedingt ist. Die größte Schwierigkeit vor der Linie, die Halkevleri (Volkshäuser) und Partei der Arbeit (EMEP) in den Armenvierteln und unter den Arbeiter*innen zu entwickeln versuchen, ist das Fehlen einer Antwort auf diese Frage. Die “technische” Korrektheit der Arbeit der Kommunistischen Partei der Türkei (TKP) mit den “Nachbarschaftshäusern” bleibt in der Schwebe, weil ihre Antwort auf diese Frage (ihr Inhalt) sich nicht vom Türkentum befreit und letztlich in einem systeminternen Horizont gefangen bleibt.
Ich glaube, dass die Erzählung von der “Befreiung der kurdischen und türkischen Völker” obsolet geworden ist, dass das, was für die Poesie der Zukunft angemessener zu sein scheint, “die Befreiung des Volkes der Türkei” ist, dass dieses Volk nur auf einem solchen Weg der Befreiung aufgebaut werden kann, und dass dieser Aufbau die Fähigkeit und die Möglichkeit hat, die einzige Linie zu weben, die die neofaschistische Normalität des Kapitalismus/der erwartungsvollen bürgerlichen Politik überwinden kann.
Zum kommunistischen Bewusstsein gehört auch die Fähigkeit, Abschied zu nehmen und das Neue aufzubauen, was wir in diesen Tagen am meisten brauchen. Das Programm, das den Türkentum verurteilt, das Konfrontation und Erneuerung möglich macht, das eine Identität des Kampfes aufbaut, die alle “auch-Menschen” dieses Landes einschließt, und eine gemeinsame politische Vision für die Zukunft der Arbeiter*innen wird nur mit einem kommunistischen Horizont möglich sein. Die Antworten auf die Frage, wie dieser Horizont in die alltägliche Politik umgesetzt werden kann, müssen durch die demokratische Diskussion derer gefunden werden, die sich unter diesem Horizont versammeln. Die Politik von heute kann ebenso konstitutiv sein, wie sie der Raum für unsere Diskussion über morgen sein kann.
Nur mit einem solchen Bewusstsein kann das Programm aufgebaut werden, das notwendig ist, um dem Faschismus nicht “mit politischem Geschwätz, Intrigen zwischen Botschaften und glorreichen Paraden” zu begegnen, sondern mit dem objektiv-praktischen Wissen über Lebensprozesse.
Die dringendste Aufgabe unserer Zeit ist es, die Kanäle der Diskussion und der Intervention dieser Zerstörung und des (Wieder-)Aufbaus zu organisieren. Dies ist vor allem ein Kampf um Hegemonie, aber Hegemonie zu erlangen bedeutet nicht notwendigerweise, den Sturz oder die Übernahme der bestehenden Macht anzustreben, sein Programm auf die Taktik eines solchen Horizonts zu beschränken und die kommunistische Politik aufzugeben. Es geht darum, die Alternative zu organisieren und bereit zu sein – eine Möglichkeit, die Depression und den Pessimismus des Zeitalters der Krisen/Katastrophen zu überwinden, besteht darin, “zu arbeiten”.